„Am Ende seiner Lebenszeit“ –
Philine von Sell fotografiert
die schöne alte OSRAM-Welt.

30 Okt 2012 | Categories: Alle, Veröffentlichungen | Posted by: admin

30.10.2012, MÜNCHEN, R. Stiehl
„Die Sechzger“. Damit verbindet man in der bayrischen Hauptstadt den Traditionsverein 1860 München im Stadion an der Grünwalder Straße. Dort erzielten die „Münchener Löwen“ in den 1960er Jahren ihre größten Erfolge: DFB-Pokal 1964, Deutsche Meisterschaft 1966. An der Hellabrunner Straße in München, unweit des Grünwalder Stadions, hat auch die OSRAM AG, die deutsche Lichtmarke schlechthin, seit 1965 ihren Stammsitz. Der OSRAM-Slogan „Hell wie der lichte Tag“ gehört zu den Klassikern deutscher Markenkommunikation.

Nun ist das Gebäude „am Ende seiner Lebenszeit angekommen“, wie Unternehmenssprecher Stephan Schmidt erklärt. Noch in diesem Jahr erfolgt der Umzug nach Nordschwabing in das „Lighthouse“ des Stararchitekten Helmut Jahn aus Chicago. Hier soll das Unternehmen „auf die digitale Zukunft des Lichts ausgerichtet werden“, sagt Wolfgang Dehen, Vorstandsvorsitzender der OSRAM AG.

VOLLER WÜRDE UND SCHÖNHEIT

Bevor das alte Gebäude verlassen wird, hat OSRAM die deutsche Fotokünstlerin Philine von Sell damit beauftragt, die Bürokultur des bisherigen Unternehmenssitzes im Bilde festzuhalten. Wer die Fotografin kennt, weiß, dass diese Bilder „bei ihr voller Würde und Schönheit geraten”, wie die F.A.Z. einmal über ihren Fotoband „Made in Germany“ schrieb, in dem von Sell „Fabrikhallen, Werkbänke und Produktpaletten“ in bekannten deutschen Unternehmen fotografierte.

Der Architekt Walter Henn entwarf das OSRAM-Gebäude im Stil seiner „Braunschweiger Schule“, die in den 60er Jahren das „Neue Bauen“ in der Tradition der 20er Jahre propagierte. Mit der betont sachlichen Linie gaben Henn und seine Kollegen aus ihrer Sicht die „richtige“ Antwort auf die monumentale Architektur der Nationalsozialisten. Auch das 1962 fertig gestellte Verlagsgebäude des Bertelsmann-Verlags in Rheda stammte aus der Feder von Walter Henn.

Philine von Sell geht es aber weniger darum, Architekturgeschichte zu fotografieren, als viel mehr der Unternehmenskultur, die sich über mehr als vier Jahrzehnte in den Großraumbüros von OSRAM entwickelt hat, eine Bildsprache zu geben.

Philine von Sell

PERSÖNLICHKEITSACHTUNG JEDES EINZELNEN MITARBEITERS

Im Dezember 1965 zog man aus den überall in München verstreuten OSRAM-Büros in ein gemeinsames großes Gebäude, das nicht nur technisch auf dem allerneusten Stand war:

„Angestrebt wurde dabei nicht der sogenannte amerikanische Großraum mit einer Hintereinanderreihung von Arbeitsplätzen in langen Arbeitssälen, sondern eine ‚Bürolandschaft’, die nach praktischen und ästhetischen Gesichtspunkten gestaltet ist und unseren Vorstellungen von der Persönlichkeitsachtung jedes einzelnen Mitarbeiters entspricht.“

„Im Gegensatz zu der früheren Zusammenballung von mehreren Arbeitsplätzen in mehr oder weniger großen Zimmern üblicher Bürogebäude, sitzen die Mitarbeiter in unserem Großraumbüro in aufgelockerten Gruppen beieinander, blicken auf Grünpflanzen oder durch große Fenster ins Freie.“

„Der Informations- und Arbeitsfluß innerhalb und zwischen den Abteilungen, also die Kommunikation, wird wesentlich erleichtert.“

Beschreibung eines Start-Up-Offices im 21. Jahrhundert? Nein, „Stichworte zur Information für den Stadtrats-Besuch am 31. März 1965“ bei OSRAM. Solche Zitate rufen neben einem Schmunzeln immer auch eine wenig Wehmut hervor. Besonders jetzt, wo es Abschied nehmen heißt vom alten Büro. Für diese und andere (auch fröhliche) Emotionen, die sich in vielen kleinen Details äußern, hat Philine von Sell ein Auge. Sie fotografiert aus der Hand, ohne künstliches Licht oder andere Aufbauten.

VON DER GLÜHBIRNE ZUR LED-LEUCHTE

„Der OSRAM-Umzug ist ein Wandel wie der von der Glühbirne zur LED-Leuchte, vom Analogen zum Digitalen,“ sagt die Fotografin. „Mit der Glühbirne verbindet sich eben nicht nur der Gedanke an verschwendeter Energie, sondern auch die Erinnerung an eine Gemütlichkeit, die nun der Vergangenheit angehört.“ In dem Prozess der Veränderung hat ihre Arbeit deshalb vor allem etwas Bewahrendes.

Noch steht nicht fest, was genau mit den Bildern passieren wird. Sicher ist, dass sie nicht im Archiv verstauben werden. Umso interessanter wird es sein, den Veränderungsprozess weiter zu begleiten und die Mitarbeiter in ihrer neuen Bürowelt zu erleben. Auch dieses Projekt hat Christina Schmöe, Head of Corporate Affairs bei OSRAM, bereits in die Hände von Philine von Sell gelegt, die ihrerseits auf wertvolle Erfahrungen im Change Management bauen kann.

Und das alte Gebäude? Fassade und Eingangshalle stehen unter Denkmalschutz und bei OSRAM und im Planungsreferat München sind bereits Überlegungen im Gange neuen Wohnraum zu schaffen, wo einst eines der herausragenden Zeugnisse für Nachkriegsarchitektur in Deutschland entstand. Vielleicht erlebt das OSRAM-Areal demnächst seine Wiedergeburt als Wohnquartier.

Und die „Sechzger“? 1860 München zog 2005 vom Grünwald Stadion gemeinsam mit dem Ortsrivalen in die Allianz-Arena um, musste aber seine Anteile am neuen Stadion in der größten Krise der Vereinsgeschichte an den FC Bayern verkaufen und hat seitdem die Hoffnung, einmal wieder ins alte Stadion an der Grünwalder Straße zurückkehren zu können. Das wird OSRAM nicht passieren. Im Schwabinger Lighthouse hat die digitale Zukunft des Unternehmens nun auch architektonisch Gestalt angenommen.